Wo das Studium für Blinde fast selbstverständlich ist

Wo das Studium für Blinde fast selbstverständlich ist

Die Fußgängerampeln machen Svenja Fabian ihr Leben um einiges leichter ihr Leben in Dunkelheit. Nicht nur, dass sie bei Grün einen Ton von sich geben. Sie sind auch durch besondere Pflastersteine markiert, damit Blinde und Sehbehinderte sich besser orientieren können. Svenja Fabian, die derzeit an ihrer Diplomarbeit in Psychologie sitzt, hat das ganze Studium in Marburg verbracht und hier auch schon ihr Abitur gemacht.

Sie hat sich wegen der vielen Freunde und Bekannten für Marburg entschieden. Aber ganz wesentlich sei auch gewesen, dass in dieser Kommune Blinde in vielen Situationen des Alltags Unterstützung fänden. Außerdem seien die Professoren mit den besonderen Bedürfnissen blinder Studierender vertraut: Zum Beispiel ist es hier ganz normal, dass ihnen eine mündliche Prüfung statt einer Klausur angeboten wird.”

Ungefähr 150 Blinde oder wesentlich Sehbehinderte studieren an der Marburger PhilippsUniversität, so viele wie an keiner anderen deutschen Hochschule. Sie belegen insgesamt derzeit 33 Studiengänge, darunter Jura, Psychologie und Germanistik. Im Wintersemester will ein Sehbehinderter mit dem Physikstudium beginnen, in Chemie gibt es schon einige Abschlüsse. Das große Fächerspektrum für blinde Studierende ist schon eine Marburger Besonderheit”, sagt FranzJosef Visse, an anderen Universitäten konzentriert sich das viel stärker auf einige wenige Studiengänge.”

Visse, der selbst von Geburt an nicht sehen kann, arbeitet in der Universitätsverwaltung, Servicestelle für behinderte Studierende. Er informiert sie darüber, mit welchen Hilfsmitteln sie ihr Studium bewältigen können. Zum Beispiel weist er auf die Möglichkeit hin, Computer mit Sprachausgabe oder einem sogenannten Brailledisplay einzusetzen, mit dessen Hilfe der Bildschirminhalt zeilenweise in Blindenschrift gelesen werden kann. Auch Assistenzkräfte bieten Unterstützung an, etwa indem sie die Studierenden in den Hörsaal begleiten, ihnen vorlesen oder Schriftstücke digitalisieren.

Blinde und stark sehbehinderte junge Menschen hatte der hessische Landgraf Philipp der Großmütige wohl nicht im Sinn, als er die Hochschule im Jahre 1527 stiftete. Protestantische Kirchen und Staatsdiener sollten hier an der theologischen, juristischen, medizinischen und der philosophischen Fakultät ihre Ausbildung erhalten. Die PhilippsUniversität ist damit die älteste noch bestehende protestantische Universität freilich hat sie im Laufe der Zeit ihr Gesicht stark gewandelt. 84 junge Männer hatten am 1. Juli 1527 ihre Studien bei insgesamt elf Professoren aufgenommen.

Kleine” Fakultäten sind bedroht

Heute werden knapp 20.000 Studentinnen und Studenten von rund 360 Professoren und Dozenten unterrichtet; 1900 wissenschaftliche Mitarbeiter übernehmen einen Teil der Lehraufgaben. In beiden Gruppen Lernende und Lehrende finden sich prominente Zeitgenossen: So studierten beispielsweise die Brüder Grimm und die Philosophin Hannah Arendt, aber auch der Kabarettist Matthias Beltz und die Bischöfin Margot Käßmann in Marburg. Zu den Professoren gehörten der Mediziner Emil von Behring, der 1901 den ersten Nobelpreis für Medizin erhielt, der Physiker und Nobelpreisträger Ferdinand Braun und der Philosoph Martin Heidegger.

Das Fächerspektrum hat sich über die Jahrhunderte stark erweitert: Inzwischen reicht es von Abenteuer und Erlebnispädagogik” bis Zahnmedizin. Aber in Zeiten knapper Finanzmittel ist inzwischen das umgekehrte Phänomen zu beobachten das Fächerangebot schrumpft wieder. Vor allem die kleinen” Fakultäten mit wenigen Studierenden sind bedroht. In Marburg fielen dem Sparzwang zum Beispiel die Sinologie und die Slawistik zum Opfer. Das tut schon weh”, sagt Volker Nienhaus, der Präsident der Universität Marburg. Er spricht von einem mentalen Genpool”, den es zu erhalten gelte. Wir müssen Wege finden, das berleben von Fächern wie Altorientalistik und Indologie/Tibetologie zu sichern.”

Gerade an einer Traditionsuniversität wie Marburg empfindet er den akademischen Artenschutz” als Verpflichtung. Andererseits ist auch ihm klar: Wir können nicht alle Fächer halten. Im Konsens mit den Fachbereichen müssen wir die zukunfts und leistungsfähigen Fächer stärken. Also die Fächer, wo es LeuchtturmProfessuren gibt.” Damit meint er die wissenschaftlichen Stars der Universität. Zum Beispiel die bislang elf Marburger Träger des Leibnizpreises. Diesen bedeutenden deutschen Wissenschaftspreis gibt es seit 1986 im Schnitt ist also alle zwei Jahre ein Leibnizpreis nach Marburg gegangen. Man mag die PhilippsUniversität als ProvinzUni bezeichnen. Aber wir sind eine ausgesprochen leistungsstarke ProvinzUni.”Allerdings sind die Universität und ihr Forschungsbetrieb nicht nur wissenschaftlicher Leuchtturm, sondern auch Wirtschaftsfaktor. Das war schon zu Zeiten Emil von Behrings so: Er gründete 1904 die Behringwerke, ein pharmazeutisches Unternehmen. Anfang der neunziger Jahre wurde es in mehreren Stufen in vier größere und einige kleinere Unternehmen aufgeteilt. Mit 3400 Arbeitsplätzen sind die BehringNachfolgefirmen größter industrieller Arbeitgeber der Region.

Und das ist auch heutzutage so: Die Universität selbst bietet neben dem wissenschaftlichen Personal fast 1700 Arbeitsplätze, von der Bibliothekarin über den Hausmeister bis zum Sachbearbeiter im Studentensekretariat. Zudem wurde vor rund zehn Jahren die Gesellschaft für Technologietransfer TransMIT” als Verwertungsagentur gegründet. Sie soll Wissenschaftler der drei mittelhessischen Hochschulen die Universitäten Marburg und Gießen sowie die Fachhochschule GießenFriedberg bei der Vermarktung von Innovationen unterstützen.

Sie bietet Wissenschaftlern, die ihre Erkenntnisse und Erfindungen zu Geld machen wollen, nicht nur Weiterbildungsmöglichkeiten und Beratung zur Existenzgründung an. Sie unterstützt die jungen Unternehmen auch dabei, ihre Finanzen zu organisieren, und sie leistet Hilfestellung bei Vertragsabschlüssen und beim Aufbau von Vertriebswegen. Anfang der neunziger Jahre wurde er am Fachbereich Physik mit einer Arbeit über Halbleiterlaser promoviert. Schon einige Zeit vor Abschluss der Promotion machte er sich mit einer LasertechnikFirma selbständig. Aus dem EinMannBetrieb von damals ist inzwischen ein Unternehmen geworden, das nicht nur dreißig Mitarbeiter in Marburg, sondern auch fünf in den Vereinigten Staaten hat und dessen Produkte von Israel bis Korea und Australien vertrieben werden. Es gab einen Kooperationsvertrag mit der Uni, der mir die Firmengründung erst ermöglicht hat. Dadurch konnte ich zum Beispiel technisches Equipment der Uni nutzen, das ich in der Startphase brauchte.”

Fruchtbar war die Unterstützung durch die PhilippsUniversität auch für die Marburger Materialwissenschaftler: Allein aus ihrem wissenschaftlichen Zentrum, an dem Physiker und Chemiker an der Herstellung von Halbleitermaterialien arbeiten, sind drei Unternehmen mit ungefähr sechzig Arbeitsplätzen hervorgegangen. Die Materialwissenschaften sind nicht nur ein wirtschaftliches, sondern auch ein wissenschaftliches Aushängeschild der Universität, sie stehen gleichsam in einer Reihe mit den elf Leibnizpreisträgern.

In die Freude von Volker Nienhaus über diese Erfolge ist bei der Exzellenzinitiative der Bundesregierung aber ein Wermutstropfen gefallen: Beim Rennen um EliteLorbeeren ist Marburg leer ausgegangen. Natürlich bin ich davon enttäuscht”, sagt Volker Nienhaus. Aber für mich ist dieses Ergebnis zugleich eine Herausforderung.” Von dem Konzept, mit dem die PhilippsUniversität angetreten ist und das darauf beruht, dass besonders die Natur und Lebenswissenschaften immer stärker überlappen, ist er nach wie vor überzeugt: Wir werden das Konzept überarbeiten. Dann bin ich zuversichtlich, dass es in einer weiteren Runde mehr Erfolg hat.”